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17.01.2023

Versorgungsbedarfe von vulnerablen Gruppen ungenügend beachtet

Kontakt

Dörthe Arnold
Pressesprecherin / Leiterin Kommunikationsabteilung KV Berlin

Dirk Becker
Pressesprecher AOK Nordost – Die Gesundheitskasse

AOK Nordost und KV Berlin fordern Politik bei Morbi-RSA zu schnellem Handeln auf

Die Versorgungsbedarfe von Menschen, die aufgrund ihres sozio-ökonomischen Status ein hohes Erkrankungsrisiko haben, werden im sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) nicht ausreichend beachtet. Schuld daran ist ein Systemfehler im Mechanismus dieses 1994 eingeführten Instruments zur Verteilung der Versichertengelder. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin und die AOK Nordost sehen deshalb einen dringenden Reformbedarf und appellieren an die Politik, jetzt die Weichen dafür zu stellen und eine entsprechende Änderung im Morbi-RSA vorzunehmen.

„Der Morbi-RSA hat sich als Instrument für mehr Gerechtigkeit in der Versorgung bewährt und sollte unbedingt beibehalten werden. Seit seiner Einführung hat er schon zu einer wesentlich genaueren Zuweisung der Versichertengelder an die Krankenkassen beigetragen. Allerdings weist der Mechanismus in seiner jetzigen Form noch eine große Schwachstelle auf. Er berücksichtigt nicht die Krankheitsrisiken, die mit dem besonderen sozio-ökonomischen Status bestimmter Versichertengruppen einhergehen. Gerade für diese Gruppen werden besondere Versorgungsangebote benötigt und ihre Versorgung ist auch aufwendiger“, sagt Daniela Teichert, Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost. 

Ein vom AOK Bundesverband in Auftrag gegebenes Gutachten unter Leitung von Prof. Dr. Jürgen Wasem zeigt, dass die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds die Ausgaben für sogenannte vulnerable Gruppen nicht annähernd decken. Zu diesen vulnerablen Gruppen zählen laut Studie Pflegebedürftige, ALG II-Beziehende, Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentner sowie Zuzahlungsbefreite. Allen vier Bevölkerungsgruppen gemein sei eine hohe Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen bei gleichzeitig geringen Beiträgen. Hinzu komme bei den Pflegebedürftigen und den Erwerbsminderungsrentnerinnen und -rentnern ein hohes Morbiditätsrisiko. Diese Faktoren würden jedoch im Morbi-RSA nicht ausreichend berücksichtigt, der sich ausschließlich auf Diagnosen stützt. Damit werden einzelne Krankenkassen benachteiligt, die besonders viele Menschen aus diesen vulnerablen Gruppen versichern. Das Gutachten folgert denn auch, dass diese systematischen Unterde-ckungen Anreize für mögliche Risikoselektionsstrategien bei den Krankenkassen geben könnten. 
 
„Darüber hinaus werden nicht nur einzelne Krankenkassen benachteiligt, sondern auch ein-zelne Regionen“, heißt es seitens des Vorstands der KV Berlin. Zu diesen Regionen zählt auch Berlin, wo beispielsweise der Anteil an ALG II-Beziehenden etwa doppelt so hoch ist wie im Bundesdurchschnitt. „Es ist unsere moralische Pflicht, alle Menschen gleich gut medizinisch zu versorgen. Aber wenn das Geld dafür nicht reicht, zahlen die Ärztinnen und Ärzte obendrauf. Das ist schlicht und ergreifend ungerecht, denn die Kolleginnen und Kollegen stehen mit Blick auf die Energiekrise und andere gesellschaftliche und gesundheitspolitische Herausforderungen ohnehin unter großem finanziellen Druck“, so der KV-Vorstand.

Die AOK Nordost und die KV Berlin setzen sich deshalb gemeinsam für eine entsprechende Änderung im Morbi-RSA ein. Damit es zu einer Reform kommen kann, muss der Wissen-schaftliche Beirat ein Gutachten zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs erstellen. Dafür braucht es einen gesetzlichen Auftrag. Die AOK Nordost und die KV Berlin appellieren an die Politik, diesen möglichst schnell zu erteilen. Nur so sei genügend Vorlauf gegeben, die Ergebnisse des Gutachtens in die für 2024 vorgesehene Neu-Evaluierung des Morbi-RSA einfließen zu lassen. Ziel muss es sein, dass gesetzliche Krankenkassen und Regionen, die sich um besonders gesundheitlich benachteiligte Menschen kümmern, keine Nachteile haben.

Hintergrund

Hinter dem sperrigen Begriff des Morbi-RSA verbirgt sich ein Verteilungsmechanismus für die Krankenkassenbeiträge der Versicherten. Er wurde 1994 eingeführt, um eine bedarfsgerechtere Verteilung dieser Beiträge an die einzelnen Krankenkassen zu gewährleisten, indem bei der Verteilung das Alter, das Geschlecht und die unterschiedliche Krankheitslast der Versicherten berücksichtigt wird. Mit der Einführung des Gesundheitsfonds – zusammen mit der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung – im Jahr 2009 fließen die Versichertenbeiträge nicht mehr direkt an die Krankenkassen, sondern in einen großen Topf (den Gesundheitsfonds). Von dort werden die Versichertengelder über den Verteilungsmechanismus des Morbi-RSA an die einzelnen Krankenkassen zugewiesen. Damit soll auch vermieden werden, dass Krankenkassen bevorzugt junge und gesunde Versicherte werben. Der Morbi-RSA war von Anfang an als „lernendes“ System konzipiert und wird entsprechend regelmäßig angepasst. Die nächste Evaluation steht 2024 an.